Zehn Worte
Neues Menschenbild für das 21. Jahrhundert
Das Tausend Jahre alte westliche ideale Menschenbild, das seine Wurzeln in den zehn Geboten hat, verblasste im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert, da die Religion verbannt und auf Gott verwiesen wurde. Unsere Gesellschaft, die auch aus Mangel an Halt auf dem Holzweg ist, benötigt ein neues Menschenbild. Aber das kann nur vom alten Menschenbild inspiriert sein, in das die kulturellen Errungenschaften der beiden letzten Jahrhunderte eingeflossen sind. Anhand von zehn Begeisterung weckenden Worten können wir weiterhin von einer glücklicheren Gesellschaft träumen.
1. Westliches Menschenbild wurzelt in den zehn Geboten
Das Denken und Handeln in der westlichen Welt wird bereits über dreitausend Jahre vom idealen Menschenbild bestimmt, so wie es in den zehn Geboten in Worte gefasst wird. Die ersten drei Gebote, die gottorientiert sind, bilden die Essenz. Die sieben anderen Gebote beziehen sich auf die Anwendung der Gebote durch den Menschen.
Die Religionen bestimmen durch die Geschichte hindurch die moralischen Hauptprinzipien und die immateriellen Normen, an die sich jeder halten soll. Wer dem Buddhismus beitritt, gibt sein Versprechen, die fünf Vorschriften einzuhalten. Im Islam bestimmt die Scharia das menschliche Handeln, nicht nur in religiösen, sondern auch in weltlichen Dingen.Im Christentum und im Judentum gelten die zehn Gebote oder gilt der Dekalog – das Griechische „deka logoi“ bedeutet zehn Worte, von denen sich Beschreibungen in den Büchern Exodus (20, 2-17) und Deuteronomium (5, 6-21) befinden:
1. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.
2. Du sollst dir kein Gottesbild machen.
3. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.
4. Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig.
5. Ehre deinen Vater und deine Mutter.
6. Du sollst nicht morden.
7. Du sollst nicht die Ehe brechen.
8. Du sollst nicht stehlen.
9. Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.
10. Du sollst nicht nach dem Haus, noch nach der Frau deines Nächsten verlangen.
Einige Fassungen vereinen das erste und das zweite Gebot und teilen das zehnte Gebot auf, aber wir beziehen uns auf die Originalfassung.
Die zehn Gebote enthalten eine Zusammenfassung einer Tausend Jahre langen menschlichen und ethischen Entwicklung. Sie bilden die Grundlage für eine rechtschaffene Gesellschaft. Diese religiösen Vorschriften – von denen man Varianten im Alten Ägypten zurückfindet – haben in bedeutendem Maße einen universellen Wert, obwohl zum Beispiel in China ein anderes Menschenbild gilt. Dieses Menschenbild ist von den Ideen des chinesischen Philosophen Konfuzius beeinflusst. Die zehn Gebote deuten, wie Richtungsweiser, den Weg zum Idealbild, das jede einzelne Generation anstrebte. Inhaltlich bestehen sie aus drei Teilen. Der Verweis auf die Beziehung mit Gott in Form von drei Gesetzen bildet das Kernstück: keine anderen Götter verehren, sich kein Gottesbild machen und den Namen Gottes nicht missbrauchen. Danach folgen sieben konkrete Anwendungen für den Menschen. Es geht um fünf moralische Verbote: nicht morden, nicht die Ehe brechen, nicht falsch aussagen, nicht stehlen und nicht begehren; und zwei Gebote: den Sabbat und die Eltern ehren. Diese zehn Regeln sind teilweise ineinander verflochten. Aber sie bleiben ein Idealbild, denn die Perfektion war, ist und wird nie von dieser Welt sein. Wie ein roter Faden zieht sich der Ungehorsam des Volkes, das Gott und Gebot vergisst, durch die Bibel. Auf der Spur von Jesus von Nazareth hat die Verbreitung des Christentums ab dem Anfang unserer Zeitrechnung im menschlichen und ethischen Denken einen großen Schritt vorwärts gemacht. Die Bergpredigt übersteigt die Gerechtigkeit, die in den zehn Geboten tief verwurzelt ist, und fordert zu Barmherzigkeit, Erbarmen und radikaler Nächstenliebe auf. Der Mittelpunkt, der Glaube an Gott, blieb jedoch im Gleichgewicht. Bis Ende des achtzehnten Jahrhunderts befanden die zehn Gebote sich im Herzen der westlichen Zivilisation, da diese fast ausschließlich christlich geprägt war. Viel mehr, als wir vermuten können, bestimmen sie unser Denken und Handeln und sogar die Gesetzgebung, die größtenteils auf ihnen beruht.
2. Gottesbild verblasst im 19. und 20. Jahrhundert
In den letzten zwei Jahrhunderten hat die Gesellschaft sich gewandelt. Unter dem Einfluss der Aufklärung wurde die Religion durch die Ratio ersetzt und wurde Gott aus der Gesellschaft verbannt. Die Umsetzung des Aufklärungsgedankens während der Französischen Revolution und der industriellen Revolution führte zu größerer Freiheit und löste einen nie dagewesenen Wohlstand aus. Die Auswirkungen dieser Umwälzungen nahmen zu.
Gott als überflüssige Hypothese
Die philosophische Strömung der Aufklärung, die sich ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Etappen in der gehobenen Gesellschaft entwickelte, bildete den Motor für die grundlegenden Änderungen. Diese Geistesströmung beruhte auf dem Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts. Von der griechischen Antike beeinflusst, beriefen die Humanisten sich nicht länger auf die göttliche Offenbarung, sondern auf das Vermögen des Menschen selber, seinem Leben einen Sinn zu geben, indem er sich auf die universellen Werte wie die menschliche Würde, Freiheit, Toleranz und Verantwortung stützt.
Der Grundgedanke der Aufklärung war das Ersetzen des dogmatischen Autoritätsglaubens durch die Ratio, die Erkenntnis oder den Verstand. Unabhängig von, aber ursprünglich sicherlich nicht gegen die Religion, kam eine rationelle und universelle Ethik zustande, die die Glückseligkeit des Menschen anstrebte: hier auf der Erde und nicht länger im Jenseits. Der nächste Prozess der Säkularisierung drängte die Rolle der Religion in die Ethik und die Politik zurück: die Trennung von Kirche und Staat.
Die Wissenschaft, die nach und nach die Stelle der Religion einnahm, gründete auf empirischen Kenntnissen, die aus der freien Erforschung hervorgingen. Als sorgfältiger Beobachter der Natur ging Isaac Newton dem Zusammenhang zwischen den Phänomenen nach. Er entdeckte die Naturgesetze sowie die Geschwindigkeit, mit der ein Körper fällt und goss sie in unveränderliche Formeln. Newton machte die Realität verständlicher, obwohl ein Drittel seines Philosophia naturalis – Principia mathematica aus dem Jahr 1686 von Gott handelte. Denn Newton war auch ein bekannter Gottgelehrter. Sodann lancierte der französische Philosoph Voltaire aufgrund einer einseitigen Lektüre der Schriftstücke Newtons – die Entdeckung der Naturgesetze – den Grundsatz, dass alle Bereiche der Wirklichkeit wissenschaftlich erforscht werden konnten. Sich auf diesen Grundsatz beziehend, fand die Idee, dass das „Unbekannte“ nur noch entdeckt werden musste, allgemeinen Anklang. Der „aufgeklärte“ Mensch wurde zum ersten Mal Herr über sein eigenes Schicksal. Der Fortschrittsglaube oder die optimistische Überzeugung, dass wir uns zu einer höheren Stufe der Vollkommenheit entwickeln, bildete die Triebfeder, um die Gesellschaft zu verändern. Große Aufklärungsdenker, wie John Toland und Baruch Spinoza, schimpften über die Religion, glaubten jedoch noch an die Existenz Gottes. Diese Beziehung wurde erst später abgebrochen. Als der französische Kaiser Napoleon den Astrologen Pierre-Simon Laplace fragte: „Sie haben ein Buch über die Wirkung des Universums geschrieben, aber Sie erwähnen nirgendwo seinen Schöpfer.“, antwortete er: „Ich benötige diese überflüssige Hypothese nicht.”
Ab dem 19. Jahrhundert legte der deutsche Philosoph Ludwig Feuerbach die Grundlage für das moderne säkularisierte Denken. Er betrachtete Gott als eine Abbildung des Menschen und die Religion als eine Täuschung, die das Begehren des Menschen befriedigte, um dessen Beschränktheit und Sterblichkeit auszugleichen. Feuerbach, dessen polemische Schriftstücke sehr einflussreich waren, befürwortete eine Zivilisation, die auf den Naturwissenschaften gründet. Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche erklärte: „Gott ist tot und wir haben ihn ermordet.” Als kritischer Analytiker bemerkte er, wie der Auftritt des Rationalismus und der Wissenschaft Gott unglaubwürdig machten. Die Wissenschaftler, die behaupteten, Gott überlegen zu sein, brachten das christliche Weltbild zu Fall. Und der deutsche Philosoph Karl Marx betrachtete die Religion als das „Opium des Volkes“, da sich die Menschen unter ihrem Einfluss nicht für gesellschaftliche Änderungen einsetzten. Indem man Gott abschrieb, wurde der Mensch die einzige Norm.
Die Französiche Revolution propagiert Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Unabhängig von einem Schöpfer oder Gott dachte der „aufgeklärte“ Mensch über neue politische und ethische Systeme zur Schaffung einer besseren Welt nach. Als Geistesprodukt der Aufklärung propagiert die Französische Revolution im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts drei Prinzipien: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. „Ni dieu, ni maître”, lautete der Wahlspruch. Die Verwirklichung dieser Ideale verlief jedoch stoßweise. Der Eroberungsfeldzug des Französischen Kaisers endete mit einem Misserfolg. Und nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, der fünfzehn bis siebzehn Millionen Menschenleben forderte, wurden im Zweiten Weltkrieg, über zwei Jahrzehnte später, fünfzig bis siebzig Millionen Menschen umgebracht. Nach 1945 wurde die internationale Zusammenarbeit erneuert, um zu verhindern, dass diese Entgleisungen sich wiederholten. Neben der Charta der Vereinten Nationen, die von Frieden und Entwicklung handelt, legte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) die grundlegenden Menschenrechte fest. Sie gewährleisten den Schutz des Lebens, der Würde, der Freiheit, der Überzeugung und der Gleichheit jedes einzelnen Menschen, ungeachtet seines Ansehens, seiner Herkunft oder der Lage, in der er sich befindet. Die Menschenrechte ihrerseits zielen auf eine rechtschaffenere Gesellschaft ab. Sie machen die zehn Gebote moderner.
Im Bann des wirtschaftlichen Fortschrittsdenkens
Fast zeitgleich mit der Französischen Revolution erlebte die Wirtschaft eine noch einschneidendere Umwälzung. Getrieben vom unantastbaren Glauben an den kollektiven Fortschritt ist unsere Gesellschaft jetzt schon zwei Jahrhunderte lang im Bann einer immer größeren und besseren Produktion. Als die „erste industrielle Revolution“ vom Vereinigten Königreich vorbeizog, wurden die Güter durch den Gebrauch von Dampfmaschinen nicht länger handwerklich, sondern mechanisch hergestellt. Der Mensch und die Natur wurden zum ersten Mal der Wirtschaft, die sich zum wichtigsten Motor der Gesellschaft entwickelte, untergeordnet. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts legte die „zweite industrielle Revolution“ eine höhere Geschwindigkeit ein, durch die Verwendung von durch Turbinen, Elektrizität und fossilem Brennstoff getriebenen Verbrennungsmotoren. Schließlich bildeten der Computer und die neuen Kommunikationsformen – das Internet, das Handy und Glasfaserkabel – in den letzten Jahrzehnten die Grundlage für die „dritte industrielle Revolution“ und die Globalisierung. Der nur schwer zu definierende Begriff betrifft die weltweite, durch die Informations- und Kommunikationstechnologie, die Investitionen und den internationalen Handel anvisierte Interaktion zwischen Menschen, Betrieben, Regierungen und Kulturen. Außerdem verdrängen die Dienstleistungen und die Kommunikation die Warenproduktion. Die neuen Wagen – Laptops – sind über die neuen Autobahnen – das Internet – weltweit miteinander verbunden: Tag und Nacht, sieben Tage in der Woche.
Durch eine in der Geschichte nie dagewesenen Zunahme des Wohlstands kam im Westen ein wahrhafter Wohlfahrtsstaat zustande. Im Zeitraum 1945-2010 vervierfachte sich in den meisten Ländern das Einkommen und waren wir reicher als je zuvor. Soziale Korrekturmechanismen verteilten diesen Wohlstand über die breiten Schichten der Bevölkerung. In materieller Hinsicht ist dieser Fortschritt eine gute Sache. Außerdem leben wir durch das gut ausgebaute Gesundheitswesen länger und gesünder.
Dennoch werden verstärkt verschiedene Fragen aufgeworfen. Das Defizit des wachsenden Wohlstandes hat durch den mörderischen Wettbewerb, der die Menschen systematisch gegeneinander aufstachelt, eine gesellschaftliche Zerrüttung zur Folge.
Trotzdem machen wir unvermindert weiter. Mit einer wirtschaftlichen Brille auf der Nase werden Jugendliche immer noch dahin gehend erzogen, mehr zu investieren, mehr herzustellen, mehr zu verbrauchen und mehr Wohlstand zu kreieren. Das „soziale Kapital“ oder wozu Menschen fähig sind und das „ökologische“ Kapital oder das Potenzial der Natur bleiben der Zwangsidee, jährlich mindestens zwei bis drei Prozent Wachstum zu generieren, untergeordnet.
Der Wandel vollzieht sich pfeilschnell
Die Tragfläche, mit der sich die philosophischen und, in deren Spur, die politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen vollzogen, beschränkte sich anfangs auf einen kleinen Kreis Intellektueller und dehnte sich nur langsam aus. Das erklärt sich durch den anfänglich gut organisierten Widerstand gegen das Aufklärungsdenken aus reaktionären kirchlichen und sozialen Kreisen. Die immer starrköpfigere Weigerung, die Errungenschaften dieses Denkens in die Kultur einzugliedern, führte mit der Zeit jedoch dazu, dass diese Kreise nach und nach ihren Einfluss auf große Teile der Bevölkerung verloren. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich diese Tendenz in einem derart rasanten Tempo durch, dass die Rollen heute nahezu vertauscht sind. In der Wirtschaft führte der „Drive“ des Fortschrittsdenkens vor allem zu einer nie dagewesenen Zunahme der Arbeitsproduktivität. Während der ersten industriellen Revolution stieg diese durchschnittlich um ein Prozent, während der zweiten industriellen Revolution um zwei Prozent und ab der dritten industriellen Revolution um zweieinhalb Prozent pro Jahr. Auch die Kirche bekam diese Entwicklung zu spüren. In Belgien ging die Anzahl Kirchgänger von rund achtzig Prozent im Jahr 1830 auf fast die Hälfte davon Mitte der 1940er-Jahre und auf 24 Prozent im Jahr 1976 zurück. Zum besseren Verständnis: Die Säkularisierung ist eine typisch westeuropäische Erscheinung. Anderswo in der Welt, wo das Aufklärungsdenken weniger Wurzeln schlug, ist dieser Trend weniger drastisch. In der Politik entwickelte sich das Zensuswahlrecht – nur diejenigen, die einen bestimmten Betrag an Steuern zahlten, hatten ein Recht zu wählen – zum allgemeinen Wahlrecht im Jahr 1895. Das allgemeine Wahlrecht, nur für Männer, wurde 1921 eingeführt und Frauen durften in Belgien erst 1949 zum ersten Mal wählen.
3. Anti-Gebote werden der Standard
Das langsame, aber sichere Verblassen des Bewusstseins der Existenz Gottes hatte weitgehende Folgen, denn mit den ersten drei Geboten wurden auch die anderen ausgehöhlt. Die Korrekturmechanismen, die die Religion auf die Gesellschaft ausübte, schafften Platz für eine ungezügelte Freiheit, die sich zu einem radikalen Individualismus entwickelte. Wegen der neuen Ordnungsworte, die Anklang finden, scheint es, als ob unsere Gesellschaft das Gegenteil der zehn Gebote achtet.
Ungleichgewicht
Das Wachstum des Fortschrittsdenkens wird nur im materiellen Bereich sichtbar. Das höchste anzustrebende Ziel ist der Erwerb von noch mehr Wohlstand: ein drittes Auto, ein Ferienhaus im Ausland, vier Mal pro Jahr Urlaubsreisen und neben einem Schwimmbad im Freien auch noch ein Innenschwimmbad. Die interne Dynamik dieses Denkens trägt zu einer Spirale bei: Man hat nie genug. Wenn der Nachbar ein neues Auto anschafft, drängt sich fast automatisch der Zwang auf, einen noch größeren und schöneren Wagen zu kaufen. Warum? Wie selbstverständlich streben Menschen zwanghaft nach mehr und nach Besserem, aus der Überzeugung heraus, dass ihr Glück entsprechend zunehmen wird. Wenn der andere Nachbar einen noch größeren Wagen kauft, wird man sich schnell dieser Illusion hingeben. Diese perverse Spirale verstärkt nicht nur den übermäßigen Konsum, sondern auch die Entfremdung.
Sind die Schultern der Menschen breit genug, um diesen Wohlstand tragen zu können?
Ob wir jetzt wollen oder nicht: Das Materielle ist wie siamesische Zwillinge untrennbar mit dem Immateriellen verbunden. Ein Mensch muss sich auch innerlich weiterentwickeln. Was hält man von seinem Leben? Und welche Schritte unternimmt man im Fall einer Krankheit oder eines Unfalls? Wenn die innere Dimension nicht ausreichend entwickelt wird, entsteht ein Missverhältnis. Es wäre so, als ob ein Sportler nur seine linke oder rechte Seite trainieren würde.
Viele neuralgische Punkte in unserer Gesellschaft können durch dieses Ungleichgewicht erklärt werden, aber anscheinend will keiner dies wahrhaben. Wer Kritik am Fortschrittsdenken übt, wird als Miesepeter seines eigenen Klans gebrandmarkt. Und wer die zehn Gebote zitiert, wird ausgebuht. Wer beschäftigt sich noch mit Normen und Werten aus längst vergangenen Zeiten? Ist – so lautet das vom Materialismus diktierte Bewusstsein – die Rolle des Christentums und der zehn Gebote in der westlichen Welt nicht ausgespielt? Sprechen die Zahlen nicht für sich? Denn lediglich einige Wenige lassen sich noch in ihrem Handeln davon beeinflussen.
Freiheit entwickelt sich zu einem radikalen Individualismus
Heutzutage herrscht eine Allergie gegen Gebote, Verbote, hierarchische Anordnung und Autorität. Freies selbstständiges Handeln bildet das höchste Gut. Im Brief an die Galater schreibt der Apostel Paulus: „Für die Freiheit hat Christus uns freigemacht. Steht nun fest und lasst euch nicht wieder durch ein Joch der Sklaverei belasten.” (Gal, 5, 1). Diese Freiheit, die anfänglich die Betreuung der Schwächeren und das Übernehmen von Verantwortlichkeit implizierte, entwickelte sich zu einem radikalen Individualismus. Viele sind egoistisch, narzisstisch – von sich selbst eingenommen – oder hedonistisch und geben ihrer eigenen Begierde den Vorrang. Wer nur an sich selbst denkt, verliert nicht nur die Fähigkeit zur Selbstkritik. Viel schlimmer ist es, wenn die Empathie verschwindet: die Fähigkeit, sich in die Lage eines anderen hineinzuversetzen. Daher verdammen radikale Individualisten jeden Appell an das Pflichtbewusstsein. Aus einem berechenbaren Verhalten verwandeln sich Mitmenschen zu Hebeln, um die eigenen Wünsche zu verwirklichen, sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene. Auf diese Weise klingt der Aufruf der Gewerkschaften, keinen Millimeter unseres Wohlstandes zu opfern, sehr laut. Wie ist dies alles – trotz des an den Tag gelegten Idealismus – vereinbar mit der Betreuung von einer Milliarde Menschen, die im Süden buchstäblich verkümmern?
Neue Ordnungsworte
Unsere „aufgeklärte“ Gesellschaft schuf kein neues Menschenbild als Ersatz für die zehn Gebote. Die treibenden Kräfte sind das Streben nach möglichst viel Produktion, Konsum und Wohlstand; die Kultur des Geldscheffelns oder möglichst viel Geld verdienen; so viel wie möglich profitieren und den eigenen Leuten einen Gefallen tun; und sich gegenseitig verteufeln.
Die neuen Ordnungsworte unserer Zeit nach diesem Vorbild lauten dann auch:
- sich selbst den Vorrang geben, ohne die anderen zu berücksichtigen
- so viel Knete wie möglich scheffeln
- niemandem vertrauen
- nach uns die Sintflut
Diese Ordnungsworte verfolgen nur materielle Ziele: jeder für sich selbst und kurzfristig gesehen. Ist es da wirklich erstaunlich, dass unsere Gesellschaft aus Mangel an einem höheren immateriellen Ziel immer mehr auf dem Holzweg ist?
Gebote werden zu Anti-Geboten
Innerhalb eines solchen Klimas gibt es keinen Platz mehr für Korrekturmechanismen. Da die Baken der zehn Gebote eher Hindernisse für das Fortschrittsdenken darstellen, werden sie ohne mit der Wimper zu zucken vom Mainstream unserer Gesellschaft zur Seite geschoben. Bezugnehmend auf die Deutung der ursprünglichen Bedeutung der zehn Gebote, überprüfen wir, wie sie sich in der Praxis entwickelt haben.
1. ‘Du sollst neben mir keine andere Götter haben’
Der Anfang der zehn Gebote ist kein Verbot, sondern ein Angebot: „Ich bin Jahwe, dein Gott“.
JHWH bedeutet: „Ich werde da sein“. Das ist kein Ordnungsprinzip, sondern ein verheißungsvoller Horizont. Kein Substantiv, sondern ein Verb. Kein Bild, sondern eine Geschichte. Es handelt von einer Glaubenserfahrung, die einen Kompass anbietet, den der Mensch als Richtungsweiser für seine Befreiung benutzen kann. Jahwe ist für sein Volk da: sein Ebenbild und sein Schicksalsgenosse. Da es sich hier um eine ausschließliche Monobeziehung handelt, gilt ein Verbot, andere Götter zu verehren: „Ich bin der einzige, außer mir gibt’s keinen“.
Die Anzahl „Götter“ in unserer Gesellschaft kann kaum gezählt werden. Es ist oft lächerlich festzustellen, wie Popstars und Fußballspielern nahezu ein göttlicher Status verliehen wird. Schlaue Werbeleute sind die Manipulatoren oder die „neuen Propheten“. Es ist eine widersprüchliche Behauptung unserer Zeit, dass Menschen, die jeder Autoritätsform abschwören, sich wie kleine Kinder hätscheln lassen. Beispiele sind die Werbung im Radio und im Fernsehen und die „neuen Gebote“, die uns durch den Drang nach Konformismus aufgedrängt werden wie die Besessenheit von Gesundheit und der wöchentliche Besuch im Schönheitssalon. Wellnesscenter und Fitnesscenter scheinen die „neuen Kirchen“ zu sein. Die Werbung beeinflusst übrigens unseres Tun und Lassen in weitaus größerem Maße, als wir es vermuten. Durch den Verkauf von Ideen und Lebensweisen versucht sie, als wäre sie ein Ersatz für die Religion, eine Symbiose zwischen kommerziellen Produkten und Lebensüberzeugung zu schaffen. Die Verbraucher kaufen keine Produkte, sondern beteiligen sich an dem Lebensstil einer Handelsmarke. Das Mythologisieren alltäglicher Güter geht einher mit der Verwendung von Clubformeln und Kundenrabattkarten. Diese verstärken den Konformismus und zielen auf die Verbundenheit der Mitglieder ab. Es wachsen mittlerweile alternative Formen der Sinngebung zu einem lukrativen Markt heran. Sekten und Randerscheinungen, wie Esoterik und Astrologie, Kartenleserei und allerlei Zauber füllen diese Lücke stückweise aus. Weil der Mensch den Platz Gottes eingenommen hat, wird das Verlangen nach Glückseligkeit, das damals kollektiv ausgefüllt wurde, fortan individuell gestaltet. Menschen befassen sich nicht länger mit der Befreiung von Schuld und Sünde, sondern versuchen nur dem Alltagstrott zu entfliehen. Viele verändern ihr Ideal, um sich – wenn auch nur für kurze Zeit – wohler zu fühlen.
2. ‘Du sollst keine Gottesbilder machen‘
Jahwe entspricht keiner Darstellung. „Ich werde da sein“ kann weder gesehen noch angefasst werden. Gott ist kein Ding, sondern ein Ereignis. Kein Monument, sondern ein Moment. Sein einziges Abbild ist das Volk, das Er auserwählt, die Menschen, die Er nach seinem Abbild geschaffen hat. Jedes Abbild würdigt Gott herab zu einem austauschbaren Gott unter den anderen Göttern.
Unsere westliche Gesellschaft voll Glamour und Glitter und Großspurigkeit baut andauernd – buchstäblich, figurativ und symbolisch – Bilder auf. Sie verehrt den Baalismus oder die Sexualität als höchstes Gut, den Cäsarismus, der für den Gebrauch der Waffengewalt als endgültiges Ziel spricht, und den Mammonismus oder das Geld, dem alles weichen muss.
3. ‘Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen‘
Den Namen Gottes missbrauchen, beinhaltet mehr als das Fluchen. Gott ist verdammt, wenn Sein Name nicht seine volle Wirkung entfalten kann: beim Aussprechen von Zauberformeln, wenn man zu Gott betet, beim Sprechen von Gott in Zusammenhang mit einem Fluch oder einem Schwur, beim Erzählen von Halbwahrheiten oder beim Lügen und beim Sprechen in Seinem Namen.
Neben dem von Flüchen geprägten populären Sprachgebrauch wird die Religion für Verkaufszwecke missbraucht. Bezugnehmend auf die Sehnsucht des Menschen nach dem Spirituellen verwendet die Werbung religiöse Symbole, um Aufsehen zu erregen, zu provozieren oder einen humoristischen Effekt zu erzielen. Wir reden von Blasphemie oder Gotteslästerung, wenn ein Lama den Platz des Lamm Gottes einnimmt, ein iPod die Gestalt eines Kreuzes annimmt, die Bibel zu einem Telefon- oder Sexbuch wird, mit Psalm-Versen für den Verkauf von Bier geworben wird und Texte aus dem Buch Genesis Windeln oder eine Versicherungsgesellschaft bewerben. Denn auf diese Weise wird ihre ursprüngliche Bedeutung banalisiert.
4. ‘Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig’
Das Heiligen des Sabbats besteht in erster Linie darin, diesen Tag von den anderen Tagen zu unterscheiden. Der Alltagstrott der Arbeit wird durchbrochen, indem man bewusst nicht arbeitet. Dies beinhaltet einen Schutz gegen Übertreibungen. Aber hinter dem Sabbat, der für jeden gilt, steckt auch das Prinzip der Gleichwertigkeit, die schließlich die Sklaverei durchbrechen wird. Last but not least macht der Sabbat Platz für die Liturgie. Die Vollendung von Gottes Schöpfung am siebten Tag ist für Gläubige eine Ikone der hoffnungsvollen Aussicht auf den vollendeten Schöpfungstag.
Die Dezimierung des Kirchenbesuchs zeigt den Untergang des Heiligen Sonntags an. In unserer Wirtschaft, die 24 Stunden pro Tag und sieben Tage in der Woche im vollen Betrieb ist, scheint der Sonntag ein Tag wie alle anderen zu sein. Denn die Betriebskultur bestimmt das Leben der Arbeitnehmer. Sie werden mit materiellen Belohnungen, wie einem Betriebswagen, einem Handy, einem Laptop, einem Fitnessabonnement, aber auch mit Wochenenden und Ferien heimtückisch an das Unternehmen gebunden. Die Produktionsziele verlangen es, Heimarbeit zu machen, und jeder ist ständig „stand-by“. Sechzig Prozent der Unternehmer erwarten, dass ihre Angestellten in ihrer Freizeit erreichbar sind. Wer nicht mitmacht, wird entlassen.
5. ‘Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren’
Männer und Frauen werden ermahnt, ihre Eltern zu ehren – nicht zu verehren –, da sie Vater und Mutter sind. Nicht das Liebhaben steht an erster Stelle, sondern eine Behandlung, die ihrem Status entspricht. Die Achtung der Tradition ist wesentlich für die Vitalität des Volks. Die Eltern spielen ja doch eine wichtige Rolle bei der Weitergabe von Werten an die jüngere Generation.
1950 waren in Westeuropa drei Prozent der Bevölkerung alleinstehend. Laut Prognosen werden 2020 vierzig Prozent alleine wohnen, davon die Hälfte Senioren. In den Großstädten zieht jetzt schon in jede zweite Wohnung ein Alleinstehender ein. Wie viele alte Menschen starren in Altersheimen vor sich hin, während sie auf Besuch warten, der nie kommt? Sie sind an ihren Stühlen festgebunden, damit sie nicht umfallen, oder brabbeln vor sich hin. Wegen der chronischen Unterbesetzung des Personals wird kaum auf sie geachtet. Nur wenige bemerken die Tragödie der einsamen und verlassenen und hilfsbedürftigen Älteren.Zwanzig Prozent der westeuropäischen Senioren werden regelmäßig miss(be)handelt. In der Hälfte der Fälle werden diese Menschen vernachlässigt aus einem Mangel an Hilfe und Aufmerksamkeit. In der anderen Hälfte der Fälle geht es um psychische Gewalt oder finanziellen Missbrauch: das Stehlen der Rente oder des persönlichen Besitzes. In Einzelfällen geht es sogar um physische Gewalt oder sexuellen Missbrauch.
Alte Menschen stellen für manche nur eine Belästigung dar. In Belgien und in den Niederlanden übt die gesetzliche Möglichkeit der Euthanasie – Sterbehilfe – via eine subtil gesteuerte Propagandamaschine Druck auf die Menschen aus, „rechtzeitig Platz zu machen“, um so der Familie und der Gesellschaft keine Kosten zu verursachen. Der „Euthanasiasmus“ redet den Älteren ein, sie würden „in Würde sterben“, wenn jede Form von Beeinträchtigung und Abhängigkeit vermieden wird.
6. ‘Du sollst nicht morden‘
Gott hat den Menschen nach seinem Abbild und nach seiner Ähnlichkeit geschaffen und schließt sich dem Leben an. Das hebräische Wort für „Totschlag“ bezieht sich jedoch nicht auf das Umbringen des Feindes auf dem Schlachtfeld, die Verfolgung eines zum Tode Verurteilten oder eine Strafe durch die Hand Gottes, sondern auf die Blutrache oder die Vergeltung bei einem Mord. Dieses Gebot möchte vor allem der Spirale der Ich-Gewalt ein Ende setzen: des Zwangs, zulasten des anderen alles für sich zu behalten.
Abtreibung und Euthanasie sind Formen des direkten Totschlags und indirekt kommen Selbstmutilation und Magersucht unter den Jugendlichen dem Selbstmord gleich: die häufigsten Todesursachen unter westlichen jungen Leuten. Unsere Gesellschaft wird zweifellos immer gewaltsamer. Krieg, Bombendrohungen, Vergeltungsaktionen und Terror sind in den Nachrichten gang und gäbe. Sie brauchen nicht oft zu „zappen“, um jeden Tag im Fernsehen Zeuge mehrerer Morde zu werden. Diese werden in immer grausamerer Form bildlich dargestellt. Wieso? Gewalt ist ein „big business“, weil die Nachfrage danach so groß ist. Vor allem die radikalen Individualisten sind fasziniert von der Gewalt. Der Drang, Aufsehen zu erregen, zielt darauf ab, Langeweile zu vertreiben und der Gewöhnungseffekt führt zu einer Verschiebung der Grenzen und zu autodestruktivem Verhalten. Menschen erweisen sich füreinander gelegentlich als Tiere. In Lateinamerika und in den südlichen Staaten der Vereinigten Staaten herrschen die sogenannten Maras: Jugendbanden, die Drogenhandel, Diebstahl und Menschenschmuggel betreiben. Sie sind bekannt für ihre mörderischen Abrechnungen. Und wer kommt in Westeuropa dem straffälligen Benehmen der Jugendlichen bei? Die Täter werden jünger und gehen immer dreister vor. Neben dem Sachschaden, der noch nie berechnet wurde, und dem psychischen Schaden, der verursacht wird, belaufen sich die Kosten für die Aufnahme und Begleitung jedes einzelnen straffälligen Jugendlichen laut einer niederländischen Schätzung auf 125.000 Euro.
7. ‘Du sollst nicht die Ehe brechen’
Ab dem Buch „Genesis“ zieht sich der Bund Gottes mit seinem Volk wie ein roter Faden durch das Alte Testament. Die Treue Gottes siegt jedes Mal über jegliches Versagen. Diesem Beispiel folgend ist die Ehe – als Spiegelbild dieses Bundes – ein Beispiel der Treue Gottes. Bei der hohen Achtung für die Ehe, mit einer deutlichen Vorliebe für Monogamie, gilt jedoch ein Unterschied zwischen Mann und Frau. Der Mann wurde als Spielverderber betrachtet, wenn er in eine andere Ehe „einbrach“, während eine verheiratete Frau, wenn sie mit einem unverheirateten Mann eine sexuelle Beziehung unterhielt, für eine Ehebrecherin gehalten wurde.
Die Familie, nicht nur die kleinste Zelle, sondern auch der Eckstein unserer Gesellschaft, steht sehr unter Druck. Die Anzahl von Ehescheidungen nimmt unheimlich zu und in den Städten wächst die Hälfte der Kinder in einer Patchwork-Familie auf. Da niemand mehr die Regeln in Bezug auf sexuelle Beziehungen festlegt – die Kirche verfügt dazu nicht länger über den nötigen Einfluss und die moralische Autorität –, ist das wirtschaftliche Denken auf den Plan getreten. Eine breite Industrie banalisiert die Sexualität und macht sie zu einem Konsumartikel, der nur auf das Verdienen von Geld abzielt. Sex verwandelt sich in einen Konsumartikel. Männer und Frauen „benutzen“ einander: kurz und heftig und am liebsten ohne weitere Folgen. Denn: Sind dauerhafte Beziehungen kein Relikt aus der Steinzeit? In Westeuropa führt jede zehnte Person eine sogenannte „Lat-Beziehung“: „living apart together“. Und wer trotz allem doch sein Bedürfnis nach einer Frau befriedigen will, findet gegen Bezahlung über eine Vermittlungsagentur eine Kandidatin im Fernen Osten.
8. ‘Du sollst nicht stehlen‘
Dieses Gebot bezieht sich sowohl auf den Diebstahl von Gütern oder Eigentum als auch auf das „Entwenden“, „Rauben“ oder das „als Sklave Verkaufen“ von freien Menschen. Im Alten Testament hängt Besitz mit dem Wohlbefinden von Menschen zusammen. Um die Armen zu schützen und die Bodenspekulation zu verhindern, müssen alle fünfzig Jahre, während eines Jubeljahres, die verfügbaren Böden umverteilt werden.
Heutzutage werden Menschen zu (Lust)Objekten degradiert. In dieser Weise trägt extreme Armut zu Kinderprostitution bei. Außerdem werden Unschuldige gegeißelt und manchmal hingerichtet. Neben einer Anzahl direkter Formen von Totalitarismus, Ausbeutung und Rassendiskriminierung geht die Freiheitsberaubung in der Konsumwelt auf sehr subtile Art und Weise vor. Auch individuell entmenschlicht das Besitzdenken – „mein Kind“ – die persönlichen Beziehungen. Die Handbücher zur Psychologie grenzen den Lebensweg ab: mit auf der rechten Seite der Mauer der sozialen Kontrolle und auf der linken Seite der Mauer des Gewissens. Nun, durch den Individualismus und das Abbröckeln des sozialen Kapitals verschwand nicht nur die soziale Kontrolle. Da immer mehr Menschen in der Pufferzone landen, bekommt auch die Mauer der Kontrolle des Gewissens Risse. Ärzte, Beamte und Politiker bekommen Geschenke, Reisen, Restaurantbesuche oder Geld von großzügigen Spendern, für die Gegenleistungen erbracht werden müssen. Durch den stufenweisen Werteverlust wird dieser Missbrauch allgemein akzeptiert. Überall ist schwarzes Geld im Umlauf und „inoffizielle“ Zahlungen sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Der Schritt hin zur Korruption ist daher auch sehr klein. Sie besteht schon seit dem Anfang unserer Zeitrechnung und findet in jeder einzelnen Kultur und auf allen Ebenen statt. Aus Mangel an Transparenz und weil das System nur auf den Fang „kleiner Fische“ abzielt, während die „großen Fische“ bei jeder Gelegenheit entkommen, scheitern die Kontrollmechanismen, die allerdings für eine Demokratie unabkömmlich sind.
9 ‘Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen‘
Lügen ist Synonym zum Missbrauchen des gegenseitigen Vertrauens. Wer falsch aussagt oder verletzbare Beziehungen ausnutzt, rüttelt an der Grundlage unserer Gesellschaft. Lügenhafte Aussagen zerstören viel und ziehen den Namen Gottes in den Schmutz.
Die Autoren Franz Kafka in „Der Prozess“, Albert Camus in „Der Fall“ und George Orwell in „1984“ legten die Verletzbarkeit des modernen Menschen für die Bedrohung durch totalitäre Bürokratien offen: ein anonymes Aufzeichnungssystem, wie bei Big Brother, Scheinprozesse und Gehirnwäsche, bei denen das Individuum jedes Mal dem System zum Opfer fällt. Leider ist das alles keine Legende, sondern in vielen Ländern harte Realität.
10 ‘Du sollst nicht nach dem Haus, noch nach der Frau deines Nächsten verlangen’
Das hebräische Verb für „begehren“ bezieht sich auf das Streben – als erster Schritt – nach Dingen, die dem Nächsten gehören: sein Haus, seine Frau, sein Sklave und sogar sein Rindvieh oder sein Esel.
Das Fortschrittsdenken verstärkt den Geltungsdrang, den Erwerb von Macht, Einfluss und vor allem die Gier. Der Manager, der 1987 zwanzig Mal so viel Geld verdiente als der Durchschnitt seiner Mitarbeiter, verdiente 2007 110 Mal so viel. In den letzten Jahren ist klar geworden, wozu der Hunger nach immer mehr Profit führen kann. Nachdem amerikanische Banken im großen Stil nicht kreditwürdigen Hauskäufern Geld geliehen hatten, überschwemmten sie die Welt mit geplatzten Krediten. Diese warfen in einer abgewandelten Form gute Erträge ab, waren aber teilweise wertlos. Das weltweite Finanzsystem wurde 2008 in seinen Grundlagen erschüttert. Topmanager verdienen jedoch immer noch mehr in einigen Monaten, als ein Arbeiter oder Angestellter in seiner ganzen Karriere. Den Nährboden für diese ungezügelte Gier bildet das tief verwurzelte Misstrauen, die Zwangsvorstellung, dass sich in jedem von uns ein potenzieller Hochstapler versteckt. „Seien Sie zuverlässig, aber vertrauen Sie niemandem.“
Einschneidende Auswirkung auf die gesamte Gesellschaft
Parallel zum oftmals subtilen, aber zerstörenden Abbau der zehn Gebote sank auch spürbar das Interesse für alle sanften und immateriellen Werte: Bürgersinn, Solidarität, Toleranz und die Berücksichtigung von Kultur, Umwelt, Religion und Sinngebung.
4. Wendepunkt
Die westliche Gesellschaft steht an einem Wendepunkt. In den letzten Jahrzehnten wurde deutlich, dass wir so nicht weiter machen können. Während der christliche Glaube sich weiter ausgrenzt, die Politik in Westeuropa in einer Sackgasse steckt und der Fortschrittsglaube stagniert, bleibt die Solidarität eine leere Schachtel. Der Anstieg des Konsums ist eine direkte Bedrohung für die Zukunft unseres Planeten. Bezug nehmend auf die „Hamartia“ oder unseren Unwillen zu lernen, geht die „rat race“ ungestört weiter. Die Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten, die in Vorbereitung ist, zeigt, dass die Zeit reif ist, das Ruder herumzureißen.
Der Glaube wird ausgegrenzt
Immer weniger Menschen werden von den zehn Geboten und der christlichen Botschaft angezogen, herausgefordert und begeistert. In Belgien gingen die Kirchenbesuche von 24 Prozent im Jahr 1976 bis auf 5,4 Prozent im Jahr 2009 zurück. Auch der Kirchenbesuch anlässlich der wichtigsten Momente im Leben nimmt rapide ab. Taufen, Kommunionen und Hochzeiten sind in manchen Fällen bombastische Modenschauen, die das soziale Prestige zur Schau stellen. Die Ausgrenzung des Glaubens in Westeuropa ist die Folge zweier einander verstärkender Entwicklungen: seine Verbannung aus dem öffentlichen Leben, wegen des säkularen Charakters der modernen Gesellschaft, und die Trägheit der Institution Kirche, die ihrer Tradition treu bleibt. Das Verblassen des Gottesbewusstseins führt dazu, dass die Kenntnis und die Bedeutung des Glaubens aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden. Wir stehen vor einem Paradoxon. Während der Ruf nach dem Übernatürlichen noch nie so groß war, sind die Kirchen in Westeuropa nicht imstand, die Leere auszufüllen: Sie sind einem Leerlauf ausgesetzt und werden von Skandalen heimgesucht.
Jedoch muss man verstehen, dass an der Essenz dieser Botschaft nichts falsch ist. Die Verpackung ist zu klein für den Schuh. Die Form, die Sprache und die Betreuung haben sich nicht in gleichem Maße entwickelt. Außerdem erschwert die typische Variante der Aufklärung/Modernität in Westeuropa einen biblisch-christlichen Glauben. Es spricht für sich, dass diese Tendenz sich in anderen Regionen weltweit nicht durchsetzt.
Politisches Patt
Die westeuropäische Politik weiß sich mit den zwei an Bedeutung gewinnenden entgegengesetzten Kraftfeldern keinen Rat mehr. Einerseits ächzen viele Nationalstaaten unter der „Regionalisierung“, was dazu führt, dass die Bevölkerungsgruppen eine größere Autonomie fordern. Andererseits kommt der Entscheidungsprozess der Europäischen Union (EU), die in zunehmendem Maße unser Leben bestimmt, nicht genügend zur Geltung. Symbolisiert durch die Einheitswährung ist die EU zunächst eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Europa erlebt jedoch fast keinen politischen, sozialen oder kulturellen Aufschwung. In der G20, dem offiziellen Koordinierungsorgan der Weltwirtschaft, haben neben der Europäischen Union sowohl Deutschland, Frankreich, das Vereinigte Königreich als auch Italien einen Sitz. Sie vertreten in erster Linie ihre nationalen Interessen und orientieren sich nicht immer an Europa. Die EU spielt auf internationaler Ebene nur eine geringe Rolle. Es ist kein Zufall, dass bei jeder Europawahl immer weniger Menschen zu Wahl gehen: 2009 waren es nur 43 Prozent.
Die Solidarität ist eine leere Schachtel
Seit den achtziger Jahren ist der westliche Wohlfahrtsstaat auf Talfahrt. Durch die fehlgeschlagenen Solidaritätsmechanismen – sie sind zu kompliziert, unpersönlich, bürokratisch und finanziell undurchsichtig – stieg die Anzahl von Personen, die an oder unterhalb der Armutsgrenze leben, auf mindestens fünfzehn Prozent. Was die soziale Sicherheit angeht, ist unser Rheinlandmodell am Ende zu platzen und die internationale Solidarität muss erst noch geboren werden. Denn, während die Lage in den 79 ärmsten Ländern immer aussichtsloser wird, betreibt der Westen weiter Nabelschau. Die Erhöhung der Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts wurde tausend Mal versprochen, aber nie verwirklicht. Nur humanitäre Katastrophen, wie das Erdbeben in Haiti, lösen eine vorübergehende Welle von Mitgefühl aus. Da wir nicht bereit sind, auf mehr als einen Krümel Wohlstand zu verzichten, wächst die Kluft zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden rasant. Viele Niedrigeinkommensländer in Afrika, Asien und Lateinamerika, in denen sich die Bevölkerung innerhalb einer Generation verdoppelt hat, werden unregierbar: unentbehrliche Versorgungen werden gefährdet, die Unsicherheit nimmt zu und der Arbeitsmarkt ist nicht imstande, den Ansturm neuer Arbeitskräfte zu bewältigen. Wer in diesen Ländern geboren wird, hat keine rosarote Zukunft. Die Migrationen der Zukunft sind Armutsmigrationen, die die Probleme des Südens exportieren. Konflikte sind vorprogrammiert. Diese stellen möglicherweise die größte Bedrohung für unsere Erde dar.
Fortschrittsdenken stagniert
In den vergangenen zwei Jahrhunderten ging das Fortschrittsdenken von dem Axiom aus, dass das ganze Leben anhand empirischer Untersuchungen erklärt werden konnte. Man konnte den Fortschritt der wissenschaftlichen Forschung in allen möglichen Bereichen weder fassen noch einen Überblick darüber geben. So kann ein Chip, der mit dem bloßen Auge kaum erkennbar ist, eine Rakete zum Mond schießen. Hingegen hat kein einziger Wissenschaftler das Wunder des Lebens aufgedeckt oder die Kohäsion vier toter Elemente: Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff. Ein Spermium ist kein Chip, sondern ein lebendiger Organismus, der wächst, sich fortpflanzt und stirbt. Je mehr die Wissenschaftler wissen, umso weniger verstehen sie alles.
Grenzen an wirtschaftlichem Wachstums
Das nie dagewesene Wachstum unserer materiellen Produktion stellt eine direkte Bedrohung für unseren Planeten dar. Die natürlichen Ressourcen werden immer knapper. Die Versiebenfachung der Weltproduktion in den vergangenen vierzig Jahren führte zu einer Verfünffachung des Verbrauchs fossiler Brennstoffe. Im Jahr 1972 sagte der Club von Rom vorher, dass die Rohstoffvorräte schon in einigen Jahrzehnten erschöpft sein würden. Diese Vorhersage trat nicht ein, aber die Wachstumsgeschwindigkeit dieses Verbrauchs ist nicht aufzuhalten. Während der Regenwald abgeholzt wird, schmelzen die Eiskappen und wächst das Ozonloch. Der ökologische „Überschuss“ beträgt ein Viertel mehr als die Bio-Kapazität, wohingegen ein Drittel der Weltbevölkerung nicht einmal den elementaren Grundbedarf decken kann. Auch unser ökologischer Fußabdruck, der die Anwendung der Land- und Wasserfläche mit dem nachhaltigen Angebot vergleicht, nimmt in den reichen Ländern ständig zu. Die Konzentration von Kohlenstoffdioxid oder CO² in der Atmosphäre ist auf dem höchsten Stand seit zwei Millionen Jahren. Der „Earth Overshoot Day“ – der Tag, an dem die Erde mehr Rohstoffe verbraucht, als sie in einem Jahr aufbauen kann, war der 31. Dezember 1986. Im Jahr 1995 war es der 21. November und 2010 der 21. August. Den reichsten zwanzig Prozent der Weltbevölkerung sind achtzig Prozent des Umweltdrucks zuzuschreiben. Wir sägen gerade an dem Ast, auf dem wir sitzen.
Durch „Hamartia“ geht die „rat race“ weiter
Der materielle Wohlstand im Westen führte nicht zu einer Zunahme des „Wohlbefindens“. Die Überzeugung, dass das Glück im gleichen Maße zunimmt wie die Kaufkraft, erweist sich als eine Täuschung. Nach Angaben des deutschen Historikers Reinhart Koselleck bildet der utopische Kurzschluss zwischen der jüdisch-christlichen messianischen Erwartung und dem Glauben an „technotopia“ die Grundlage für diese Meinung. Denn das Fortschrittsdenken veranlasst, dass wir an die planetarischen und menschlichen Grenzen stoßen. Neben der Finanzkrise von 2008, die immer noch herrscht, werden wir mit der Arbeitsmarktkrise, der Nahrungsversorgungskrise, der Energiekrise, der Klimakrise, usw. konfrontiert. Was wir erleben, ist schließlich eine Zivilisationskrise. Im kapitalistischen Denken sind Krisen segensreich, da sie die leistungsschwächeren Akteure aus dem Weg räumen. Heute muss der Kapitalismus selber jedoch diskutiert werden. Obwohl die Krise von 2008 den Bankrott der Fortschrittsidee aufzeigte, hat diese immer noch Bestand. Die G20, die Europäische Union und die nationalen Regierungen setzen alle Hebel in Bewegung, um diese „rat race“ so schnell wie möglich zu deblockieren, weil die Krise zu einer Abnahme unseres Wohlstands von fünf bis sieben Prozent geführt hat. Um einen weiteren Rückgang unseres Wohlstands zu verhindern, muss das Karussell wieder auf vollen Touren laufen. Warum hat die nötige Reflexion nicht stattgefunden? Die Erklärung liegt in dem, was der griechische Philosoph Aristoteles in seinem Poetica als „Hamartia“ oder das Unvermögen bzw. die klare Weigerung, seine Kenntnisse zu verbessern, beschrieb. Von sich selbst eingenommen, sind viele Entscheidungsträger der Meinung, dass sie die Wahrheit gepachtet haben und dass niemand ihnen noch etwas beibringen kann. Die „Hamartia“ steht im engen Zusammenhang mit der „Hybris“: dem Hochmut oder der Eitelkeit – in der katholischen Glaubenslehre, die erste und schlimmste der sieben Todsünden. Wer sich im Bann des Größenwahns befindet, dem fehlt jedes Feingefühl für eine tiefgründige Erfahrung und für das Übernatürliche.
Allgemeine Erklärung der Menschenplichten
Bei Vielen wächst das Bewusstsein, dass das Ruder radikal herumgerissen werden muss. 1987 forderte der Brundtland-Bericht der Vereinten Nationen zu einer harmonischen Zusammenführung von ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen auf. Im gleichen Jahr prangerte Papst Johannes-Paul II in seiner Enzyklika Sollicitudo Rei Socialis die Überentwicklung oder die soziale Fettleibigkeit an. Der deutsche Gottgelehrte Hans Küng arbeitet seit den neunziger Jahren an einem neuen Weltethos (siehe www.weltethos.org). Darüber hinaus führte der französische Präsident Nicolas Sarkozy 2009 ein anderes Modell als das Bruttoinlandsprodukt zur Messung des Fortschritts ein. Er will auf Rat der Nobelpreisträger für Wirtschaft Joseph Stiglitz und Amartya Sen dem Wohlbefinden verstärkt Rechnung tragen. Außerdem möchte der Weltrat der Kirchen das Bruttoinlandsprodukt durch Bruttonationalglück ersetzen. Dieses berücksichtigt die Ausbildung, das Gesundheitswesen, die Ökologie, die kulturelle Vielfalt, den Gemeinschaftsgeist, die Zeitplanung und das psychologische und spirituelle Wohlbefinden. Auf der Versammlung der G20 in der brasilianischen Hauptstadt Rio de Janeiro im Juni 2012 steht eine Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten auf der Tagesordnung, weil die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte weder eine ausreichende Antwort auf die Weltkrise, die Finanzkrise, die Wirtschaftskrise und die soziale Krise noch auf die Folgen des Klimawandels bietet. Die neue Erklärung beschreibt sowohl die individuellen als auch die kollektiven Verantwortlichkeiten des Menschen. Das Endziel ist, eine von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN) gebilligte Charta aufzustellen, die sowohl von den 193 Ländern der VN als auch von den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Organisationen und den Bürgern anerkannt wird.
Auf Knopfdruck reagieren
In der westlichen Welt war die Lage, das Ruder herumzureißen, so günstig wie nie zuvor. In diesem Moment sind alle Elemente vorhanden, um prinzipiell eine andere Richtung einzuschlagen. Der Groschen muss einfach noch fallen. In der westlichen Welt kann ein neues Menschenbild in diesem Sinne als Hebel dienen.
5. Zehn Worte gestalten das neue Menschenbild für das 21. Jahrhundert
Unser Menschenbild beinhaltet zehn Worte: Begeisterung weckendes Grundverhalten, das sich auf das neue und das Tausend Jahre alte Ideal bezieht, das auf die zehn Gebote zurückgeht. Nicht nur die Wiederherstellung der Verbindung mit dem Übernatürlichen – für die Gläubigen ist dies Gott –, sondern auch die Errungenschaften der Französischen Revolution und der Globalisierung spielen dabei eine wichtige Rolle.
Wiederherstellung des Bandes mit dem Göttlichen oder dem Übernatürlichen
Der Entwurf des Gesellschaftsmodells geht zurück auf den Ursprung der Entgleisung: das Verblassen des Gottesbildes, denn die Entwicklungen in der Wirtschaft und in der Politik der beiden letzten Jahrhunderte sind nicht dessen Ursachen, sondern dessen Folge. Es gilt nun der Dimension, die – so viel größer als wir selbst – unsere sensorische Wahrnehmung übersteigt, die uns umgibt und unser Handeln trägt, erneut den primären Platz zuzuweisen, der ihr zusteht. Wegen der grundlegenden Umbrüche in der Gesellschaft erweitern wir unseren Horizont. Wer das Leben berührt und intuitiv als ein Geschenk erfährt, spürt den Atem von etwas oder jemandem, der das Leben selbst ist, alles umfasst und das Leben lebbarer macht. Das ist das schlagende Herz hinter dem Pulsschlag des Lebens oder das „große Hegen und Pflegen“, wo Liebe überall wahrnehmbar wird; das sichere Gefühl, dass irgendwo eine Sicherheit besteht, ein sicherer Hafen, in dem jeder von uns anlegen kann. Für Christen ist das natürlich der Gott der biblischen Offenbarung und für Nichtgläubige der Hinweis auf das Übernatürliche und das Mysterium. Der eine glaubt an Gott, der andere nicht, aber das braucht keinen Keil zwischen Menschen zu treiben. Für Gläubige ist das ein Aufruf zu Einsatz in der Gesellschaft, den sie zusammen mit barmherzigen Menschen aufnehmen können, ungeachtet ihrer politischen Einstellungen. Albert Einstein schrieb: „Spüren, dass sich hinter all dem, was erlebt werden kann, etwas versteckt, was unser Verstand nicht imstande ist zu fassen, etwas, von dem die Schönheit und Erhabenheit nur indirekt und als ein schwacher Schein zu uns kommen, ist Religiosität. In diesem Sinn bin ich ein tief religiöser Atheist.” Die Intuition ist dabei wichtiger als die Anwendung unserer Sinne. Der Hinweis auf ein kosmisches Mysterium, das Urwunder, den fernsten Horizont, das höchste Gut, den Allerhöchsten – das, was am Ursprung dessen liegt, was sich lohnt – erweitert unser Blickfeld, ruft uns auf , unsere Verantwortung zu übernehmen, und ermöglicht es uns, einen Unterschied zwischen Gut und Böse zu machen. Die Wiederherstellung dieser Vorrangstellung schließt nahtlos an die oft unausgesprochene Sehnsucht und das Verlangen an, die nahezu alle Menschen hegen. Viele Menschen sind nämlich auf der Suche nach einem breiteren Horizont und wollen über sich selbst hinauswachsen.
Andauernder Prozess
Unser Plädoyer für die Wiederherstellung des Bandes mit dem Übernatürlichen oder dem Göttlichen ist nicht von der Sehnsucht nach der Vergangenheit, wo alles angeblich besser war, diktiert, sondern berücksichtigt uneingeschränkt den gesellschaftlichen Kontext, der sich grundlegend gewandelt hat. Wir stehen vor der Herausforderung, die Errungenschaften der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – so wie sie unter Einwirkung der Globalisierung geschaffen wurden, einzukalkulieren. In den letzten beiden Jahrhunderten hat nämlich ein grundlegender Umbruch stattgefunden. An die Stelle des Menschen, der von Gott „geschaffen, geliebt und bestimmt“ wird, tritt der freie „selbstbestimmte Mensch“, der selbstständig wählt und Entscheidungen trifft – auch über seine Fruchtbarkeit, seine Zukunft und seinen Tod. Der Mensch ist nie „fertig“, sondern entwickelt sich ständig weiter. Die Freiheit, die in den westlichen Ländern so natürlich scheint, ist in weiten Teilen der Welt noch nicht selbstverständlich, wie es der Arabische Frühling aufzeigt. Auch in Sachen Brüderlichkeit oder Gleichbehandlung aller muss noch ein langer Weg zurückgelegt werden. Die westlichen Länder stehen vor der Herausforderung, die Solidaritätsmechanismen neu zu definieren. Zunächst, um den echten Bedürfnissen im Westen selbst besser begegnen zu können. Außerdem müssen wir als Hüter unserer Brüder im Süden die internationale Solidarität sichtbar verankern: nicht über die Wohltätigkeit der Entwicklungshilfe, sondern über eine organisierte Vorgehensweise durch die staatliche Sozial- und Krankenversicherung. Gewerkschaften müssen weltweit rechtschaffene Arbeitsbedingungen anstreben und Arbeitgebervereinigungen sollen sich um das Schicksal der Arbeitgeber im Süden kümmern. Darüber hinaus muss die Nachhaltigkeit als vierter Pfeiler mit den Idealen der Französischen Revolution vervollständigt werden. Die Nachhaltigkeit ermöglicht es uns, den Grenzen des Wirtschaftswachstums in Zusammenhang mit der Belastbarkeit der Umwelt und der Menschen Rechnung zu tragen. Die Wirtschaft der Zukunft schenkt den Stakeholdern oder Interessierten, mit denen Betriebe zusammenarbeiten, mehr Aufmerksamkeit; die Arbeitgeber streben nicht danach, möglichst viel Geld zu scheffeln; die Beziehung Arbeitgeber-Arbeitnehmer gründet auf einer Partnerschaft und der Arbeitnehmer wird auch am Gewinn beteiligt. Das Überleben auf unserem Planeten erfordert nachhaltige Investitionen, die möglichst wenig negative Auswirkungen auf die Umwelt und das Klima haben. Nachhaltige Investitionen sind ein Vertrauen erregendes Heilmittel, sowohl für die Wirtschaft als auch für die Gesellschaft. Das alles ist tief in einer universellen Herangehensweise verwurzelt, denn aufgrund der zunehmenden Völkerwanderung ist die westliche Gesellschaft zu einem Schmelztiegel der Kulturen, Völker und Rassen geworden. Der multikulturelle Charakter unserer Gesellschaft wird nicht abnehmen. Ganz im Gegenteil. Die Art und Weise, auf die wir mit dieser Gesellschaft umgehen, stellt eine der größten Herausforderungen für die Zukunft dar.
Zehn begeisternde Grundverhalten
Die erworbene Freiheit, die unter keiner Bedingung rückgängig gemacht werden kann, impliziert, dass den Menschen nicht länger ein gewisser Rahmen und bestimmte Gebote oder Verbote aufgezwängt werden können. Wir bieten den freien Menschen zehn Worte an: feinsinnige Antennen oder begeisternde Grundverhalten für die Gesellschaft von morgen. Jedem steht es frei, das Angebot anzunehmen.
Die ersten dreiGrundverhalten stellen wieder eine Beziehung zu dem her, was uns übersteigt: das Göttliche oder Übernatürliche.
1. Das Leben voll auskosten (Neben mir keine andere Götter verehren)
Um eine Wahl oder Entscheidung treffen zu können, benötigen Menschen etwas oder jemanden, der sie durch den Dschungel der Existenz führt und auf den sie sich verlassen können: einen Bezugspunkt oder einen Halt. Darüber hinaus ist die Nutzung aller fünf Sinne wichtig. Heutzutage erfreuen sich der Gehörsinn und das Sehvermögen großer Beliebtheit, da sie wesentlich sind für das Fortschrittsdenken. Die „sanften Werte“ des Geschmacksinns, des Tastsinns und des Geruchssinns, die eher zu der Ebene der Intuition gehören, sind weniger entwickelt. Das spiegelt sich zum Beispiel in unserem Unvermögen wider, die Natur in all ihren Dimensionen zu erfahren. Schenken wir den Gerüchen, den Farben und den Früchten, die die Natur hervorbringt, genügend Beachtung? Wer mit all seinen Sinnen erfährt, wie Pflanzen wachsen, blühen und sterben, führt ein erfüllteres Leben. Das erste Grundverhalten sorgt dafür, dass wir ein erfüllteres Leben führen, wenn wir der Unendlichkeit, dem Unentgeltlichen und dem Spielerischen der Wirklichkeit, von der wir umgeben sind, Bewunderung entgegenbringen. Dahinter steckt ebenfalls die Ergriffenheit, die Dankbarkeit und die Liebe so viel Schönheit und Reichtum gegenüber, was beim ersten flüchtigen Hinsehen zu nichts dient, aber so viel bedeutet. Den Schöpfer oder den Künstler lieb haben, der das alles geschaffen hat und jeden Tag aufs Neue zum Leben erweckt, ist eine Art von Einkehr oder Gebet.
2. Echtheit (Sich kein Gottesbild machen)
Das Gegenteil des Glamours und Glitters und der schönen Fassade ist die Echtheit. Menschen sollen sich in ihren Worten, ihrem Tun und Lassen zeigen, wie sie sind und wofür sie stehen, ohne geheime Motive zu haben oder etwas im Schilde zu führen. Man ist nur authentisch, wenn man trotz allen Versuchungen von außen seiner Persönlichkeit, seinem Geist und seinem Charakter treu ist, die sich aufgrund von Tradition, Gemeinschaft, Kultur und Ritualen geformt haben. Das zweite Grundverhalten ruft uns auf, uns stets so zu zeigen, wie wir sind.
3. Im Geiste lieben (Den Namen Gottes nicht missbrauchen)
Ein Name ist keine neutrale oder sachliche Angabe. Wer den Namen seines Geliebten oder seiner Geliebten ausspricht, tut dies gewissenhaft und aus einem Verlangen heraus, seinem Herzblatt nah zu sein. Darüber hinaus steckt dahinter eine große Kraft. Bei einem Flugzeugabsturz in den Anden mobilisierte der Luftfahrtpionier Jean Mermoz übermenschliche Kräfte: Indem er den Namen seiner Frau aussprach, schaffte er es, drei Tage und Nächte durchzuwandern, um die bewohnte Welt zu erreichen. In dieser Weise kann Gott oder das, was uns übersteigt, indem man seinen Namen ausspricht, in schwierigen Zeiten eine Kraft darstellen, die es uns ermöglicht durchzuhalten und bis ans Äußerste unserer Kräfte zu gehen. Seinen Namen aussprechen heißt mit dem Geist lieb haben. Das dritte Grundverhalten lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die tiefere Kraft, die hinter der gewissenhaften Anwendung des Namens steckt, von dem- oder derjenigen, der bzw. die uns übersteigt.
Die folgenden sieben Grundverhalten beziehen sich auf die Anwendung durch den Menschen.
4. Sich vom Stress erholen (Halte den Sabbat heilig)
Der wöchentliche Ruhetag ist mehr als eine gesetzliche Verpflichtung, die ab den sechziger Jahren in den meisten westlichen Ländern eingeführt wurde. Jeder Mensch braucht es, nach sechs Arbeitstagen den Alltagstrott zu durchbrechen, um sich von Stress und Arbeitsdruck zu erholen. Weil dieser Tag kein Tag wie alle anderen ist, ziehen sich die Menschen am Sonntag anders an. An diesem Tag muss man sich mit geistigen Dingen beschäftigen: plaudern und spielen, singen und tanzen, sich gegenseitig besuchen und feiern, um den Tag mit Schönheit zu füllen und einander zu genießen. Außerdem ist der Tag für die Gläubigen ein Tag, um Seine Anwesenheit und die der anderen im Gebet und Ritual zu erleben. Den Sonntag zu heiligen ist absolut notwendig, um voll und ganz Mensch zu sein. Das vierte Grundverhalten legt den Schwerpunkt auf den heiligen Sonntag als Eckstein eines ausgewogenen Lebens.
5. Die Gegenseitigkeit (Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren)
Jeder hat neben seinen leiblichen Eltern viele Väter und Mütter, von denen er getragen wird, die ihm Geborgenheit geben und bei denen er sich in Sicherheit fühlt. Auch wir werden, einer nach dem anderen, mehrmals Vater oder Mutter. Hier spielt die Dynamik des Gebens und des Nehmens. Nichts kommt von selbst. Haben wir nicht alles bekommen? Dank unserer Erziehung und Sprache, der Entwicklung unserer Gedanken, des Erwerbs von Kenntnissen und der Entwicklung der (Nächsten)liebe fühlen wir uns als Teil der Wirklichkeit, die uns umgibt. Wer von neuen Projekten träumt, benötigt die Erfahrung und die Weisheit voriger Generationen. Denn nach einer „Tabula rasa“ oder dem Löschen der Glut der verbrannten Bibliotheken wird es unheimlich frostig in einer vaterlosen und mutterlosen Gesellschaft. Die gegenseitige Interaktion zwischen Jung und Alt lenkt ebenfalls unsere Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Geschichte, die sich jedes Mal wiederholt. Während wir in der Informationsflut in den Medien und im Internet ertrinken, beschränkt sich der Geschichtsunterricht allzu oft darauf, Daten und Namen auswendig zu lernen, ohne dass ein tieferes Verständnis der Geschehnisse erworben wird. Eine Verbesserung unserer Geschichtskenntnisse kann unserem Unvermögen, aus der Geschichte zu lernen, entgegenwirken. Das fünfte Grundverhalten lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Gegenseitigkeit zwischen Jung und Alt und die Bedeutung der Geschichtskenntnis.
6. Die Kraft der Kunst (Du sollst nicht morden)
Wir werden jeden Tag mit Kriegsopfern, Aidstoten und Abtreibungen konfrontiert. Das Mittel gegen die von immer mehr Gewalt geprägte Gesellschaft ist die Entwicklung der „sanften Werte“. Das Wunder des Lebens kann sich nur ereignen in einem Klima von Schutz, Sorge, Liebe, Ermutigung und Bestätigung. Die außerordentlichen Vermittler dieser sanften Werte sind Kunst und Kultur. Da jedoch dem politischen, wirtschaftlichen und militärischen Denken Vorrang eingeräumt wird, das im Unterrichtswesen durch das einseitige Interesse für „brauchbare“ Fächer wie Mathematik, Wissenschaften und Sprachen zum Ausdruck kommt, haben die meisten eben nicht den blassesten Schimmer von Kunst. Der Wald der „Landhäuser“, „Pfarrhäuser“, „spanischen Häuser“ und der gescheiterten modernistischen Architektur in den Villenvierteln sowie die Anhäufung von Schnickschnack in den Vorgärten veranschaulichen uns, dass die Bevölkerung größtenteils kulturell analphabetisch ist. Hinter Kunst und Kultur steckt allerdings eine enorme Kraft. Sie bringen Menschen zusammen, sie verlagern die Qualität der Gesellschaft auf eine höhere Ebene und tragen außerdem eine prophetische Kraft in sich. Zu jeder Zeit machten Künstler sich Gedanken um das, was in der Gesellschaft lebt, und gewähren uns durch ihre Einbildungskraft einen Blick in die Zukunft. Das sechste Grundverhalten lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Kunst und die Kultur und sorgt nicht nur dafür, dass wir das Leben lieb haben, sondern auch dafür, dass wir bewusster leben.
7. Treue Liebe (Du sollst nicht die Ehe brechen)
Zusammen eine Mahlzeit genießen kann – viel mehr als Nahrung zu sich nehmen, um seinen Hunger zu stillen – zu einem Fest werden, bei dem die Freundschaft die Hauptmahlzeit darstellt. Infolge dieses Beispiels ist der Geschlechtsverkehr viel mehr als sich zu „begatten“, wobei aus Sicht der Männer und aufgrund ihrer Auffassung von Sexualität die genitale Lust und das absolute Muss eines Orgasmus vorherrschen. Der Eroberung oder der Dominanz in der Partnerschaft abgeneigt, erweitert der weibliche Blick auf die Sexualität das Blickfeld mit Zärtlichkeit und Rührung, Treue und Geborgenheit. Mehr noch als die Liebe stellt die Treue die Triebfeder einer Beziehung dar. Wahre Liebe ist eine Quelle für die Art von Treue, bei der man sich selbst vergisst – eben in den Momenten, in denen der Partner nicht den Bedürfnissen und Erwartungen entspricht. Eine aktualisierte Botschaft über Sexualität, Liebe und Treue kann Menschen in ihrem tiefsten Inneren glücklich machen und verhindert, dass dieser Bereich ständig von hinterhältigen Typen, die Sexualität nur als eine Einnahmequelle betrachten, ausgefüllt wird. Das siebte Grundverhalten möchte Menschen befreien, um in Treue voll und ganz lieb zu haben: mit ihrem Gefühl, Körper und Geist.
8. Respekt (Du sollst nicht stehlen)
Der Antipode der Unterdrückung anderer – die ursprüngliche Bedeutung des achten Gebots – ist die Befreiung des Menschen. Aber ein Leben in Freiheit ist unmöglich, ohne gegenseitigen Respekt. Der Respekt vor dem anderen zeigt sich auf unterschiedliche Art und Weise und auf verschiedenen Ebenen, ist aber ein gegenseitiges Ereignis. Kein einziges Land kann ohne Bundestreue oder Loyalität richtig funktionieren. Der ehemalige amerikanische Präsident, John F. Kennedy, erklärte: „Ask not what your country can do for you, ask what you can do for your country”. Respekt bedeutet ebenfalls „law and order“ einhalten. So muss man sich Schwerverbrecher und Drogenhändler, die Jugendlichen Sand in die Augen streuen, richtig vorknöpfen. Darüber hinaus ist die einzige Antwort auf die „No-go-Zonen“ eine Nulltoleranz und die Ausführung systematischer Kontrollen. Gegenseitiger Respekt zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten ist ebenfalls sehr wichtig. Schuldirektoren und Oberkrankenpfleger, die für eine geringe Lohnerhöhung eine verantwortliche Funktion wahrnehmen, verdienen mehr Respekt. Individuell wirkt sich der Respekt auch auf die Gruppe aus, zu der man gehört. Geschäftsführer, die sich an der Kultur des Geldscheffelns versündigen, rücken die Arbeitgeber in ein falsches Licht. Politiker, die in ihrem Hang nach Mediengeilheit Einzeiler und sexy Vorschläge, die oft nicht mehr als Phrasendrescherei sind, in der Bevölkerung verbreiten, untergraben die Glaubwürdigkeit des ganzen politischen Betriebs. Die unbeschnittene rassistische Rede, die in gewissen westeuropäischen Ländern eine soziologische Tragfläche von fünfzehn bis zwanzig Prozent hat, gründet ebenfalls auf einem wesentlichen Mangel an Respekt vor Ausländern. Das achte Grundverhalten stellt deutlich klar, dass gegenseitiger Respekt unabdingbar ist, damit die Gesellschaft gut funktioniert.
9. Vertrauen (Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen)
In dieser Stimmung des Misstrauens der nervösen Spannungen und der geistlichen und materiellen Armut, von der viele westliche Gesellschaften geprägt sind, müssen wir uns selbst als eine offene, zuverlässige, gastfreundliche und interkulturelle Gesellschaft beschreiben, in der Bevölkerungsgruppen einander nicht bekämpfen, sondern sich miteinander auf den Weg machen. Ein Blick auf die Geschichte lehrt uns, dass die Niederlande ihre größte Blütezeit kannten, als das „andere Volk“ die erste Stelle belegte, wie zur Zeit der burgundischen Herzöge. Das neunte Grundverhalten strebt eine offene, tolerante und gastfreundliche Gesellschaft als Heilmittel gegen das in unserer Gesellschaft vorherrschende Misstrauen an.
10. Bewundern, ohne zu besitzen (Du sollst nicht nach dem Haus, noch nach der Frau deines Nächsten verlangen)
Unser Leben wird nicht reicher, indem wir mehr besitzen, sondern indem wir unseren Besitz und unsere Persönlichkeit mit anderen teilen. Wir müssen dann auch auf diese Zwangsvorstellung, immer mehr konsumieren zu müssen, und auf das Nachahmungsverhalten verzichten – „was ein anderer hat, muss ich auch haben“ –, ohne uns zu fragen, ob das, was wir kaufen, eigentlich nützlich ist. Wir müssen das Leben anders angehen. Bewundern, ohne zu besitzen, ist eine Lebenskunst. Der Westen hat übrigens keine andere Wahl, als einen Teil des Wohlstands zu opfern und sparsamer zu leben. Wenn wir diesen Schritt nicht freiwillig tun, werden andere ihn uns aufdrängen. Das Bewusstsein, dass das einseitige Fortschrittsdenken uns in den letzten Jahrzehnten nicht glücklicher gemacht hat und unser ökologisches und soziales Kapital zerstört hat, lässt uns übrigens keine andere Wahl, als unser Verhalten zu ändern. Nach den sieben fetten Jahren, kommen die sieben mageren. Indem wir das zehnte Grundverhalten anwenden, kann ein sparsameres Leben eine bessere Welt zustande bringen.
6. Den Traum von einer glücklicheren Gesellschaft weiterhin hegen
Wie können wir die zehn Grundverhalten, die Ecksteine der Gesellschaft von morgen gestalten? Eine sanfte Hand, gepaart mit einer harten Vorgehensweise, soll das Idealbild in den Verstand einprägen. Inspirierende Figuren können dabei behilflich sein. Bescheidenheit ist allerdings der echte Schlüssel, um den Traum einer glücklicheren Gesellschaft zu verwirklichen.
Sanfte Hand und harte Vorgehensweise
An erster Stelle gilt es nun, mit sanfter Hand die Grundverhalten in den Verstand der Menschen einzuprägen: Tropfen für Tropfen, Tag für Tag. Hierbei kommt dem Unterrichtswesen und der Aus- und Weiterbildung eine Hauptrolle zu. Darüber hinaus erfüllen die Behörden eine wichtige Vorbildfunktion, um diese Grundverhalten in breite Schichten der Bevölkerung einzuführen. Wir benötigen berufsethische Codes für politische Mandatsträger und Beamte und strikte Verhaltensregeln für Lobby- und Interessengruppen. Diese sanfte Vorgehensweise genügt jedoch nicht. Die Regierung muss eine Anzahl von Punkten durchzusetzen. Ein wichtiges Instrument bildet der obligatorische Zivildienst für alle Jugendlichen zwischen 18 und 25. Gesetzesbestimmungen schließen alle Hintertüren und sehen eindeutige Strafen für diejenigen vor, die gegen das Gesetz verstoßen. Eine Politik, die gleichzeitig vier Ziele verfolgt, muss alle Formen von Betrug bekämpfen. Erstens: indem sie die Gründe, weshalb man betrügt, aus dem Weg räumt. Zweitens: indem sie die Nachfrage der Verbraucher durch verstärkte Kontrollen bremst. Drittens: indem sie Verjährungsfristen für nachweisbaren Betrug aufhebt. Viertens: mithilfe einer Politik der Nulltoleranz und indem sie effektive Gefängnisstrafen ausspricht.
Inspirierende Vorbilder
Aber die Gesetzesbestimmungen reichen nicht aus. Wir brauchen vor allem einflussreiche Personen, die diese zehn Grundverhalten auf eine glaubwürdige Art und Weise ausüben und denen wir folgen können. Viele sind immer noch von dem heiligen Damianus inspiriert. Und in Russland setzt sich der ehemalige Dissident Aleksandr Ogorodnikov, der einen neunjährigen Aufenthalt in den Konzentrationslagern in der Sowjetunion knapp überlebt hat, seit 1987 weiterhin für eine humanere Gesellschaft ein. Jeden Tag kümmert er sich um ein paar hundert Menschen aus gesellschaftlichen Randgruppen. Es ist äußerst wichtig, derartige Beispiele aufzuschreiben und weiterzugeben. Papst Paul VI schrieb in Evangelii Nuntiandi Nummer 41: „Der heutige Mensch hört lieber auf Zeugen als auf Gelehrte, und wenn er auf Gelehrte hört, dann deshalb, weil sie Zeugen sind.”
Der echte Schlüssel: die Bescheidenheit
Der echte Schlüssel zur Umsetzung dieses Umbruchs ist das, was die Griechen „tapeinophrosyne“ nennen – Demut, Untertänigkeit und Bescheidenheit – als Antipode der „Hamartia“ oder unseres Unwillens, zu lernen. Wer die angepassten zehn Gebote demütig in sein Leben integriert, wird sich der Beschränktheit seiner eigenen Überzeugung bewusst, relativiert sich selbst, drängt seine Meinung nicht auf, ist solidarisch und offen – nicht nur für andere Meinungen, sondern auch für andere Menschen, weil in den Genen der „tapeinophrosyne“ die Ehrfurcht für das Göttliche, das Mystische oder das Übernatürliche verankert ist. Wenn Menschen auf diese Weise leben, werden sie auch ohne den externen Druck der Bestrafung oder Belohnung ethisch korrekt handeln. Dann übernimmt man ganz freiwillig seine Verantwortung.
Wir sind die Gesellschaft
Freiheit gestalten heißt nicht, dass man nach seinem eigenen Willen handelt, und bedeutet auch nicht, dass die Gesellschaft akzeptiert, dass Menschen sich zurückziehen und sagen: „Ich sorge für mich selbst und lassen Sie mich in Ruhe.“ Eine solidarische Gesellschaft impliziert, dass jeder seinen Beitrag leistet, durch die Übernahme von Verantwortung, sowohl für die Gesellschaft im Allgemeinen als auch für den Mitmenschen im Besonderen. Die Behörden sind keine Milchkühe, von denen möglichst viel profitiert werden muss. Jeder soll den Teil bekommen, der ihm zusteht, aber es liegt dann auch in der Verantwortung jedes Einzelnen, dass die Gesellschaft weiterhin gut funktioniert. Wir sind die Gesellschaft. Die letzte Verantwortung für die Gesellschaft liegt deshalb auch nicht bei den anderen, sondern bei uns selbst. „Wer die Welt verändern will, muss bei sich selbst anfangen“, erklärte der verstorbene brasilianische Bischof Helder Camara. Einfache oder symbolische Taten tragen ebenfalls zum Aufbau der Gesellschaft bei. Das Kleine ist nicht klein. Jeder Anteil, wie unbedeutend er auch sein mag, ist wichtig. Nicht die Quantität, sondern die Qualität zählt.
Ziel vor Augen halten
Die Verwirklichung unseres neuen Menschenbildes kurbelt die offene Streitkultur an, stärkt die sozialen Netzwerke und führt zu mehr bürgerschaftlichem Engagement, mehr Transparenz, einer verstärkten Berücksichtigung der Qualität und zu mehr fairem Handel. Das alles ist jedoch Wunschdenken, denn es bleibt ein anzustrebendes hochgestecktes Ideal. Wir vergleichen die Verwirklichung unseres Menschenbildes mit einer Wolke aus miteinander verbundenen Seifenblasen. Diese Seifenblasen versinnbildlichen unser Grundverhalten, um die Gesellschaft von Grund auf neuzugestalten. Sie bilden ein zusammenhängendes Ganzes, weil sie unzertrennlich miteinander verbunden sind. Die wichtigsten Eigenschaften dieser Wolke sind ihre Flexibilität und ihre Mobilität. Wenn unterwegs eine Seifenblase zerplatzt ist das keine Katastrophe, da die anderen Seifenblasen den freigewordenen Platz sanft ausfüllen. Unterdessen treibt unser Menschenbild diese Seifenblasenwolke geräuschlos in die Richtung des finalen Zwecks voran: eine glücklichere Gesellschaft.
7. Bestätigung
Dieser Text „Nieuw maatschappijmodel brengt mensen samen in plaats van ze te verdelen“, der im Dezember 2010 veröffentlicht wurde (Printor, Zottegem, 180 Seiten), ist eine Vertiefung des Manifests Utopia revisited. Die Idee dazu ist im September 2011 anlässlich eines Gespräches mit dem deutschen Künstler Johannes Wickert entstanden. Die erste Fassung des Textes lag innerhalb von drei Wochen vor; Manu Verhulst, Johannes Wickert, Ludo Vanden Eynden und Emmanuel Van Lierde haben bei der Endredaktion noch einige ausschlaggebende Ideen eingebracht. Für die Deutung der ursprünglichen Bedeutung der zehn Gebote beziehen wir uns auf die Artikelserie von Frans Lefevre. Als Illustrationsmaterial wurden 25 alte und neue Gemälde aus dem Werk von Wickert ausgewählt. Marc Van Dorpe sorgte für die prachtvollen Fotos.